Ferndiagnose - Die Kolumne zum Fernabitur, Folge 1

Schweißausbrüche um halb zehn

Es muss sich um ein bisher völlig unbekanntes psychologisches Phänomen handeln. Jedenfalls findet sich in der einschlägigen Literatur kein ähnlicher Fall, selbst Freudsche Wälzer fördern wenig Erhellendes zu Tage. Dabei müsste in Zeiten von Pognophobie (Angst vor Bärten), Dendrophobie (Angst vor Bäumen) und Papaphobie (Angst vor Päpsten) eigentlich auch mein periodisch auftretender Gemütszustand von der Wissenschaft phobiert worden sein. Ist er aber nicht. Folglich tue ich das Nahe liegende, ich betätige mich selbst als Wortschöpfer und stelle mir unter Rückgriff auf meine rudimentären Griechischkenntnisse folgende Selbstdiagnose: Tachydromophobie.

Tacho-was? mag der verwirrte Laie fragen und an seinen Geschwindigkeitsmesser im Auto denken. Nein, vor notorischen Bleifüßlern fürchte ich mich nicht, die Dinge sind komplizierter: Ich bin Fernabiturient und habe Angst vor Tachydromos, dem gemeinen Briefträger.

Der Rollentausch war schleichend, ist nun aber kaum mehr zu leugnen. Die Furcht meines Briefträgers vor zähnefletschenden Hunden, stromgesicherten Gartenzäunen und randalierenden Empfängern von Busgeldbescheiden ist eine Mär - ich selbst bin es, dem allein das bedrohliche Scheppern des herannahenden Postfahrrades Schweißperlen auf die Stirn treibt. Doch damit nicht genug. Ausgelöst durch dieses Initialgeräusch beginnt das Feuerwerk abnormaler Körperreaktionen gerade erst zu explodieren. Der Schweißverlust kann vielleicht noch im Sinne positiver Entschlackung betrachtet werden, gefährlich wird erst der Gang zum Briekasten, das unkontrolliert-taumelnde Bewältigen der letzten Treppenstufen hinab zur Haustür, vergleichbar nur mit dem Gang zur Toilette nach dem elften Caipirinha in Nachbarins Dachstudio.

Noch brisanter wird die Situation, habe ich erstmal die Hand in den engen Einwurfschlitz gezwängt - was aufgrund verschwundener Briefkastenschlüssel nicht selten vorkommt. Das Objekt der ängstlichen Begierde ist meist schnell ertastet und durch akrobatische Kopfverrenkungen zusätzlich auch visuell identifiziert: ein brauner Umschlag im Format DIN-Lang, undurchleuchtbar für neugierige Postangestellte und hinterlistige Mitbewohner. Reflexartig schnellt die verkrampfende Hand wieder aus dem scharfkantigen Schlitz, flitzen die Augen über den aufgedruckten Wortlaut der Absenderadresse, erlangt das adrenalindurchtränkte und nach Sauerstoff japsende Hirn Gewissheit über den Inhalt: Hausaufgabe, korrigiert und benotet, mit freundlichen Grüßen aus Hamburg.

Nun mag diese Tatsache für Außenstehende kaum derartige Gefühlswallungen und Beinahe-Herzstillstände rechtfertigen, doch wissen jene Erdenbürger eben auch nicht um die Auswirkungen derartiger Postsendungen auf mich als Fernschüler. Sie unterschätzen den psychosomatischen Effekt blutroter Kommentare und zeilenübergreifender Durchstreichungen ebenso wie die Signifikanz der abschließenden Benotung für Partnerschaftsleben und Darmflora in der Zeit nach der Stunde Null.

Sie wissen auch nicht, dass ein Fernschüler auf dem langen Weg zur ersehnten Hochschulreife mehr als einhundertfünfzig dieser Werke verfasst, frohen Mutes dem Logistiksystem der Deutschen Post AG anvertraut, um sie dann schließlich nach längerer oder kürzerer Zeit des Vergessens mit zittrigen Händen aus dem Briefkasten zu fischen.

Immerhin, eines ist der verblüfften Nachbarschaftsschar mittlerweile klar: keep distance, man versuche bloß nicht, mich in diesem Zustand geistesabwesender Erregtheit anzusprechen oder gar in ein längeres Gespräch zu verwickeln. Wirre Satzfetzen meinerseits träfen auf ungläubige Blicke, schlimmer: mein explosiver Hormoncocktail verquickte sich mit alkoholgeschwängerter Atemluft witzelnder Frührentner – Kollateralschäden auf beiden Seiten nicht ausgeschlossen.
Also lieber schnell zurück und hin zu meinem Brieföffner (das voreilige Aufreißen derart brisanter Post auf offener Straße ist nicht zu empfehlen, zu unberechenbar ist die eigene emotionale Reaktion und dessen Effekt auf vorbeiziehende Kindergartengruppen und Autofahrer).

Sofern nicht bereits die zugeschlagene Haustür und der Einstieg durch das Klofenster meinen Puls auf Werte jenseits der medizinischen Verantwortbarkeit befördert haben, geschieht dies beim Erklimmen der letzten Treppenstufen und gleichzeitigen Betasten des Briefumschlages. Für Außenstehende ebenfalls kaum nachvollziehbar, entwickelt der Fernschüler die erstaunliche Fähigkeit, allein durch Abschätzen des Briefgewichts auf die Anzahl der enthaltenen DIN-A4-Seiten zu schließen. Der Hintergrund: Kommt eine fünfseitige Hausaufgabe in Begleitung von zehn Seiten Kommentar zurück, ziehen meist dunkle Wolken auf.

Nun aber gibt es keinen Weg mehr zurück. Ungeschickt fummele ich mit dem brotmessergroßen Öffner an dem Umschlag herum, bar jeder Feinmotorik, das Herz wie nach unüberlegt-exzessivem Kaffeekonsum auf höchsten Durchsatz eingestellt. Beim Herausziehen der Blätter fällt der Blick auf erste Inseln roten Schriftbildes, Inseln der eigenen Unzulänglichkeit, des fachlichen Versagens. Doch Einzelheiten zählen jetzt nicht, das eigentlich Wichtige steht auf der letzten Seite, rasch hingekritzelt oder zelebrierend-genüsslich gezeichnet. Der point-of-no-return ist längst überschritten, jetzt soll der ängstliche Blick auf die vergebene Note endlich für Gewissheit sorgen.

Uuuuuuhhhhh…! Die akustischen Emotionsäußerungen korrespondieren auf präziseste Weise mit den erreichten Punkten auf der Notenskala - Freunde, Bekannte und Nachbarn können allein daraus Rückschlüsse über den Verbleib des Haussegens in den folgenden Tagen ziehen.

Dass diesmal alles gut gegangen ist, unterstreicht nicht zuletzt mein kleiner Freudenhüpfer. Gefahr gebannt, alle Truppen zurück, Aufregung umsonst. Was bleibt? Kühle Schweißtropfen auf der Stirn und einmal mehr die Gewissheit, dass das Hinfiebern auf das Ergebnis schlimmer ist als das Ergebnis selbst.

Für heute ist es geschafft. Doch bereits morgen wird der Briefträger wieder quietschend vor meinem Haus auftauchen – und mit ihm meine Tachydromophobie, das Übel eines jeden Fernschülers. Vielleicht sollte sich die Wissenschaft wirklich mal drum kümmern.