Ferndiagnose - Die Kolumne zum Fernabitur, Folge 2

Selbst ist der Mann

Es ist nicht etwa so, dass ich masochistisch veranlagt wäre. Und wie ich genau auf die Idee gekommen bin, die physikalischen Gesetze des elektrischen Stroms im Selbstversuch am Toaster zu analysieren, weiß ich selbst nicht mehr so genau.

Der Erkenntnisgewinn jedenfalls war im wahrsten Sinne des Wortes „einleuchtend“, die Logik des Elektronenflusses hat sich nun gleichsam in mein Gedächtnis eingebrannt. Vermutlich geschah das ganze Feuerwerk mal wieder im Zuge meiner optimierten Lernstrategie mit dem Ziel, möglichst interaktiv und hautnah mit dem Lernstoff in Kontakt zu treten – „learning-by-doing“ lautet im Neudeutschen die scheinbar harmlose Zauberformel. Dass dabei die schmerzweiterleitenden Synapsen auch schon mal zu glühen beginnen, mag aus medizinisch-ethischer Sicht Probleme aufwerfen – wahrscheinlich aber gehören solche Kollateralschäden einfach zum Berufsrisiko eines neugierigen Geistes.

Der Fernschüler als solcher ist in diesem Zusammenhang jedoch insofern benachteiligt, als er a) weitgehend autodidaktisch, b) ohne fachliche Supervision und c) meist auch ohne adäquates Equipment operieren muss. Nachteilig schlägt weiterhin zu Buche, dass die finanziellen Folgebelastungen oft nicht absehbar sind. Während nämlich an staatlichen Schulen und Universitäten ein explodierter Chemiesaal mit Steuergeldern wieder hergerichtet wird („diesmal mit Frischluftzufuhr und Feuerlöscher“), muss für den Wiederaufbau der häuslichen Küche im Zweifelsfall der chemicus inscius selbst aufkommen.

Gleichwohl ist der didaktische Effekt von besonderer Durchschlagskraft: Wer vergisst schon die chemische Zusammensetzung des viel zitierten Knallgases, wenn die Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff erst einmal die heimische Badlandschaft in ein Trümmerfeld verwandelt hat?

Freilich, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit muss vom ambitionierten Fernschüler schon mal unterwandert werden - doch liegt nicht auch hierin gerade ein besonderer Reiz? Wer ergötzt sich denn nicht an der betörenden Wirkung des Adrenalins, so kurz vor dem Absprung vom Zehnmeterbrett, die Personenwaage fest unter die Füße geschnallt? Und ist es nicht ein tolles Gefühl zu wissen, nach wie vielen Millisekunden die eigene Hand reflexartig von der glühenden Herdplatte zurückschnellt?

Ich jedenfalls bin überzeugt, dass soviel Eigeninitiative genau den Nerv der Zeit trifft – da macht es nichts, wenn die eine oder andere körpereigene Synapse mal überbeansprucht wird. Der Weg zur Erkenntnis ist eben ein steiniger...